Perspektive #5: Der Raum dazwischen

Wir versuchen das Verhältnis zwischen Realität und Fantasie, zwischen realen und virtuellen Bildern, zwischen dem Natürlichen und Künstlichen auszubalancieren.

Eigentlich ist unser Leben auf gewisse Weise surrealistisch, da wir in einer Endlosschleife aus unzähligen Widersprüchen leben: Bewegung und Stillstand, Schnelligkeit und Langsamkeit, Geselligkeit und Einsamkeit, Optimismus und Pessimismus, Bewusstsein und Unbewusstsein, Sinnhaftigkeit und Leere, Kreativität und Zerstörung, Freiheit und Unterwerfung, Spiritualität und Materialität, Anwesenheit und Abwesenheit, Utopie und Dystopie. Und am Ende fühlt es sich so an, als würden wir bei jedem Schritt des Weges und zu jedem Zeitpunkt zwischen Existenz und Nichtexistenz balancieren.

Die Zeitlichkeit – und die traumartige Mehrdeutigkeit – unseres Daseins wirkt sich auf alle Aspekte unserer Handlungen und Erfahrungen aus, die zwischen Erinnern und Vergessen schweben. Hin und wieder meinen wir, den Sinn des Lebens und den Kern unserer Existenz erfasst zu haben, doch gleichzeitig stellen wir fest, dass unsere Wahrnehmung des Kosmos der Täuschung und Illusion erliegt. Die ausgewählten Arbeiten erkunden auf vielfältige Weise die Fluidität menschlicher Erfahrungen, sie nehmen unser Verhältnis zur Natur und zu uns selbst in den Blick und befassen sich mit der Art, wie wir unsere Lebensweise und die Dinge, die uns umgeben, wahrnehmen.

In Dark Matter kreiert Viktor Brim eine düstere, postapokalyptische Szenerie menschlicher Eingriffe in die Erde. Seine traumartige – oder eher alptraumartige – Beobachtung einer von Menschenhand veränderten und gezeichneten Landschaft kommt ganz ohne die Gegenwart von Menschen aus. In seinem Video fallen Anwesenheit und Abwesenheit in eins und erzeugen bei den Betrachter:innen ein Gefühl der Bedrohung.

In Disposables erkundet Sanaz Sohrabi den Abstand zwischen einer vage erzählten Erfahrung eines politischen Aufstands und die Interpretation und Visualisierung der erzählten Handlung durch eine verlangsamte choreografische Bewegung von Darsteller:innen in einem leeren Raum. Dadurch entstehen neue Assoziationen und es kommt zu einer völlig neue Erfahrung zwischen den Bild- und Tonelementen.

Jasmin Bigler und Nicole Weibel spielen in dem Video Im Nebensinn von Dagmar und Doris mit unserer Wahrnehmung des Alltäglichen, indem sie die Bedeutung und den Gebrauch alltäglicher Gegenstände transformieren und unerwartete, surrealistische und außergewöhnliche Handlungen mit Objekten und Menschen in gewöhnlichen Räumen inszenieren.

Stefanie Ohler unternimmt in Der Versuch des Schmetterns etwas ähnliches, aber auf ganz eigene Weise: Sie inszeniert eine 'Wiederbelebung' toter Schmetterlinge und verwandelt sich selbst symbolisch in einen 'Schmetterling'. Sie zeichnet den gesamten Prozess, eine traumhafte und exotische Umgebung in ihrem Schlafzimmer herzustellen, wie ein Ritual auf.

Sabrina Labis visualisiert in How to Build a Mountain auf vielschichtige Weise ein YouTube-Tutorial. Dabei kombiniert sie die Off-Stimme mit scheinbar unzusammenhängenden Bildern und erkundet dadurch den Widerspruch zwischen natürlich und künstlich, zwischen den konstruktiven und destruktiven Spuren, die Menschen in der Natur hinterlassen.

In Still Lifes erforscht Erik Levine Vorstellungen von Zeit, Erinnerung und Altern. In einem Altersheim, das sich an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit befinden kann, fängt er auf sensible Weise die schwebende und flüchtige Zeit ein, die gleichzeitig stillzustehen scheint.

Das letzte Video dieser Auswahl, Ode to Seekers 2012 von Andrew Norman Wilson, ist eine humorvolle – eigentlich aber brutale und sarkastische – allegorische Zusammenfassung der verschwenderischen, süchtig machenden und dekadenten Aspekte des modernen Lebens. Das Video ist als Dauerschleife gedacht und verweist – begleitet von den aufregenden Klängen bekannter Popsongs – auf den Teufelskreis eines Lebens, das eher den Eindruck einer missglückten Party macht.

Alle diese Arbeiten laden die Zuschauer:innen dazu ein, Aspekte des Lebens und seiner Widersprüche auf gewisse Weise wie ein Dokumentarfilm zu betrachten. Ein poetischer und surrealistischer 'Dokumentarfilm', der ein bittersüßes, diachronisches Palimpsest menschlichen Lebens künstlich herstellt und den 'Raum dazwischen' erkundet – zwischen dem, was wir verstehen, und dem, was uns entwischt oder entgeht. Dabei wird den Zuschauer:innen Raum für eigene Verbindungen und Interpretationen gelassen.

Gioula Papadopoulou



Zur Person

Gioula Papadopoulou ist bildende Künstlerin und Kuratorin. Sie ist Gründungsmitglied und künstlerische Leiterin von Video Art Miden, einer international tätigen, unabhängigen Organisation, die sich der Erforschung und Förderung von Videokunst widmet (GR). Seit 2020 lehrt sie am New Media Laboratory in der Fakultät der Bildenden Künste der Aristotles-Universität Thessaloniki (AUTH, GR).

Image Credit: Video still: Jasmin Bigler & Nicole Weibel, Im Nebensinn von Dagmar und Doris (In the Subsense of Dagmar and Doris), 2016, Courtesy the artists

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