Perspektive #9: Viele Formen von Grenzen, viele Mittel sie zu durchdringen

Eine Perspektive auf die Ausstellung der VIDEONALE.19

Grenzen entstehen häufig dort, wo vermutet wird, dass das „Andere“ beginnt. Diese Grenzziehungen markieren einen Raum direkt außerhalb der eigenen Person, wobei weitere Personen diesseits der Grenze hinzukommen können, um Gruppen mit angeblich gemeinsamen Kriterien der Identitätsbildung zu formen. Manchmal geschieht dies aus freien Stücken und führt zur Entstehung einer Gemeinschaft, die für alle vorteilhaft ist, doch oft ist dies nicht der Fall und die Gemeinschaft ist das Resultat eines ererbten Traumas. Auf der Ebene der Nationalstaaten ist die Grenzziehung ein Akt der Aufteilung von Land mittels unsichtbarer Linien, die auf Landkarten zu manifesten Linien werden. Diese Linien verändern sich nicht, bis sie es dann doch unweigerlich tun. Wenn Grenzen sich mit der Zeit von einer individuellen Erfahrung zum unsicheren kollektiven Boden von Nationalstaaten erweitern, werden sie bürokratisch und als Waffe gegen das eingesetzt, was als das Andere wahrgenommen wird, als Projektion einer Bedrohung von außen. Was wir aber wirklich über Grenzen (auf vielen Ebenen) wissen können, ist, dass so rigide sie erscheinen mögen, sie doch, sobald sie gezogen werden, porös und auf vielerlei Weise (offiziell und inoffiziell) passierbar werden.

Ausstellungen werden in Umgebungen installiert, in denen Lagepläne zur Orientierung nützlich sein können. Selten wird jedoch eine Reihenfolge für das Erleben der Kunstwerke vorgeschlagen. Manchmal werden die Bewegungen der Besucher:innen von der Anordnung der Werke und den architektonischen Gegebenheiten absichtlich oder unabsichtlich geleitet. Die Besucher:innen sind aber von der Ausrichtung ungehindert und können sich in beliebiger Reihenfolge mit den Arbeiten auseinandersetzen. Mit der Auswahl der Werke für diese Perspektive auf die VIDEONALE.19 wird versucht, dieses Gefühl der freien Wahl beizubehalten und nur subtile Orientierungshilfen zu geben: es geht um das weitgefasste gemeinsame Thema der vielfältigen Formen von Grenzen und der unterschiedlichen Mittel, mit denen sie durchdrungen werden können. Bitte setzen Sie sich mit den Werken in beliebiger Reihenfolge auseinander und weichen Sie gern von diesem lockeren Pfad, der in viele Richtungen führt, ab, um Entdeckungen jenseits von ihm zu machen.

Jedes Kunstwerk in dieser Auswahl bildet an sich schon eine einzigartige Konstellation. Manche teilen sich bestimmte Sterne – damit sind Punkte der Beziehung, Knoten der Solidarität gemeint. Zu den Themen, die erkundet werden, gehören: die Konfrontation mit und die Umgehung von rigiden Staatsgrenzen; indigene Widerstandsfähigkeit und Selbstbestimmung gegen vergangene und gegenwärtige Kolonialisierungen; Genderfluidität als eine Form der Reise zu sich; die Stärke migrantischer Erfahrungen im Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und für die Suche nach einer Heimat im Dazwischen; individuell bestimmte Grenzen der Identität als schützende Abgrenzungen.

Erik Martinson



Wenn Sie diese Perspektive erleben wollen, schauen Sie sich folgende Werke in der Reihenfolge Ihrer Wahl an:

Maija Blåfield | The Fantastic
Felipe Castelblanco & Lydia Zimmermann (in Zusammenarbeit mit Ñambi Rimai Media Collective) | AYÊNAN: Territorios de Agua
Ji Su Kang-Gatto | Vlog #8998 | Korean Karottenkuchen & Our Make-up Routine
Julian Quentin | Territory
Federico Cuatlacuatl Teles | Tiemperos del Antropoceno: TOLCHIKAUALISTLI


*Diese Perspektive wurde für die Ausstellung zur VIDEONALE.19 im Kunstmuseum Bonn kuratiert. Da nicht alle für diese Perspektive ausgewählten Werke im Online-Archiv gezeigt werden dürfen, kann das Programm hier leider nur unvollständig gesichtet werden.



Zur Person

Erik Martinson ist ein freier Kurator und Autor. Seine Projekte fanden in Institutionen wie Institute of Contemporary Arts, London; LUX, London; Contemporary Art Centre, Vilnius; Whitechapel Gallery, London; Contemporary Art Museum of Estonia, Tallinn; Cubitt Gallery, London;Kunstnernes Hus, Oslo; Rupert, Vilnius; Kim? Contemporary Art Centre, Riga; and CPR², New York statt.

Image Credit: Federico Cuatlacuatl Teles, Tiemperos Del Antropoceno: TOLCHIKAUALISTLI, 2021 © David Morales

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