Perspektive #2: Konflikthafte Landschaften
oder Den Boden unter den Füßen verlieren
Bei der Arbeit mit Archiven bieten sich unendlich viele Interpretationsmöglichkeiten, da der Forschungsprozess oftmals von zeitgeschichtlichen Umständen oder den eigenen emotionalen Zuständen beeinflusst wird. Als ich in das Online-Archiv der Videonale eingetaucht bin, habe ich zunächst nach einem thematischen Leitfaden gesucht, um mich der schier unübersichtlichen Fülle von Positionen und Bedeutungen der auf der Plattform abgespeicherten Arbeiten zu nähern. Dabei habe ich mich abwechselnd mit Themen wie Technik, Umwelt, Identität oder der Suche nach Formen des Bewegtbildes beschäftigt. Doch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine fiel es mir schwer, an andere Themen als Konflikte und Gewalt zu denken. Das 3. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde mit der durch die Pandemie verursachten globalen Gesundheitskrise, der Zunahme totalitärer Tendenzen, dem massiven Krieg in Osteuropa und zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheiten eingeläutet. Lösungsperspektiven oder Visionen für eine bessere Zukunft sind Mangelware, und die Frage „Was bringt uns die Zukunft?“ bleibt weitestgehend unbeantwortet.
Kriege, Konflikte und politische Unterdrückung führen zu einer Spirale nie endender Gewalt, die sich in persönlichen Tragödien, Zwangsvertreibungen, der Zerstörung der Lebensgrundlagen und anderen Traumata niederschlägt. Konflikthafte Landschaften sind wie Wunden auf der Erde, die immer wieder aufbrechen, wenn sie nicht behandelt werden. Oft überwiegt die Tendenz, Rechtfertigungen zu finden und die tatsächlichen Ereignisse zu vergessen oder sie mit alternativen Erzählungen zu verschleiern.
Doch obgleich die kollektive Erinnerung sich von der Realität zu entfremden scheint, so lassen Schmerz und Trauma keinesfalls nach, sondern führen vielmehr ein gespenstisches Nachleben. Archive können bei ihrer Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, weil sie das Potenzial besitzen, Erinnerungen aufzurufen und Wege zur dringend benötigten Linderung aufzuzeigen.
Meine Auswahl aus dem Online-Archiv der Videonale umfasst folgende Beiträge zu den oben genannten Themen: 3 Logical Exists von Mahdi Fleifel, der den Alltag eines Mannes in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon dokumentiert; fuck the war von Beate Geissler und Oliver Sann, eine beeindruckende Arbeit, die meine eigenen Kindheitserinnerungen an die frühen 1990er Jahren wachruft, als Georgien von Kriegen heimgesucht wurde und Kriegsspiele bei uns Kindern besonders beliebt waren; Anubumin von Zanny Begg und Oliver Ressler, ein emotional aufrührendes Werk, das die kaum bekannte politische und wirtschaftliche Unterdrückung der Bürger der Insel Nauru beschreibt; und Chaos von Julie Kuzminska, ein abstrakter Erzählfluss aus Bildern und Tönen, der meine Auswahl ausdrucksstark widerspiegelt.
Ergänzend verweise ich im Zusammenhang mit der Playlist aus dem Archiv der Videonale auf zwei Arbeiten georgischer Künstler*innen, um einen Dialog zu ermöglichen und weitere Perspektiven im Kontext des gegebenen Themenspektrums zu eröffnen: Speechless(2009) von Salome Jashi und Lost & Found – Spell to Return a Lost One(2020) von Mariam Natroshvili & Detu Jincharadze.
Giorgi Spanderashvili
*Weiterführend schlage ich auch folgende Arbeiten vor, von denen ich bisher nur Ausschnitte einsehen und die auf der Videonale-Plattform verfügbaren Beschreibungen lesen konnte:
Eden’s Edge von Gerhard Treml & Leo Calice
Walls Have Feelings von Eli Cortiñas
Xenos von Mahdi Fleifel
Zur Person
Giorgi Spanderashvili ist ein in Georgien ansässiger Kurator, Kunstmanager und Kulturschaffender. Seit 2010 ist er in den Bereichen der zeitgenössischen, bildenden und darstellenden Kunst tätig. Er ist Mitbegründer und Co-Kurator des georgischen Videokunstarchivs und der unabhängigen Plattform für neue Medienkunst In-between Conditions. In diesem Jahr hat er den georgischen Pavillion auf der 59. Internationalen Ausstellung in Venedig - Biennale Arte 2022 - kuratiert.
Perspektive #2 ist in Kooperation mit dem Büro medienwerk.nrw entstanden.